Die Brille, wo hindurch wir schauen

Wie wir die Bibel lesen, ist von unserem Verständnis abhängig. Wir können die Welt und damit auch die Bibel nur durch die Brille unserer eigenen Erfahrung hindurch sehen.

Die Brille, die wir tragen, ist sozusagen die Zusammenfassung verschiedener Einflüsse. Man kann zwar den Wunsch haben, die Bibel «richtig» zu verstehen, aber wir stehen uns selbst mit unserer Erfahrung und unseren Annahmen dabei im Weg. Es hilft auch nichts, zu sagen, dass die Bibel «wahr» ist, oder wir durch Gottes Geist geleitet sind. Das alles stimme ich zu, aber es macht uns selbst nicht unfehlbar. Wir stehen uns selbst immer noch im Weg. Trotz aller göttlichen Unterstützung bleibt unsere Brille «unsere» Brille.

Der Absolutheitsanspruch mancher Christen über das eigene Verständnis ist nicht nur absurd und abstossend, sondern schlicht falsch. Damit meine ich nicht, dass es keine eindeutige Wahrheit gäbe, sondern dass unser eigenes Verständnis «bruchteilhaft» bleibt (1Kor 13,12). Der Anspruch auf absolute Erkenntnisse bleibt in Gott verborgen, während wir das Geheimnis des Glaubens nur in reinem Gewissen halten können (1Tim 3,9).

Ist die Bibel zu kompliziert?

Zweifellos projiziere auch ich noch vieles in den Text hinein. Deshalb bemühe ich mich, voreilige Schlussfolgerungen zu vermeiden und beim Lesen der Bibel stets vom Kontext auszugehen. Viele Aussagen über die Bibel müssen dann sofort fallen gelassen werden, weil die Annahmen über den Text nicht vom Kontext unterstützt werden. Erst wenn wir dazu den Mut haben, können wir die Aussagen der Bibel wieder selbst zu Wort kommen lassen. Erst dann beginnt ein Prozess der Differenzierung, wodurch wir – Schritt für Schritt – uns dem Text und der ursprünglichen Aussage nähern können.

Mancher sagt, die Bibel sei zu kompliziert. Im Wesentlichen geht es darum, dass wir selbst zu kompliziert sind. Das ist meist keine bewusste Entscheidung. Wir tragen Ideen und Projektionen von Theologien vieler Generationen mit uns herum. Diese Projektionen loszuwerden, ist die eigentliche Herausforderung. Wir selbst sind die grössten Hürden zum Verständnis. Es sind unsere verinnerlichten Gedanken, Werte, Ideen und Glaubensvorstellungen, die einem «unvoreingenommenen» Lesen der Bibel im Weg stehen. Die Bibel ist nicht kompliziert – wir sind es.

Den eigenen Horizont erweitern

Ebenso wie unser Verständnis ganz logisch von bisherigen Erfahrungen und Sichtweisen geleitet wird, so braucht es neue Erfahrungen und Sichtweisen, damit wir unabhängiger denken können. Wie komme ich zu neuen Erfahrungen und Sichtweisen?

Manch einer wirft vielleicht – frustriert über bisherige Erfahrungen – die Bibel und das Christentum weg. Es gibt jedoch einen anderen Weg. Wir müssen nur anderen Erfahrungen und Sichtweisen einen Entwicklungsraum schenken. Damit meine ich nicht, dass wir bisherige Frustrationen wieder gutheissen müssten, sondern dass wir unseren eigenen Horizont erweitern.

Wer beispielsweise über bisherige Lehrmeinungen, über die eigene Glaubenshaltung, über so manche Annahme über Gott und die Welt frustriert ist, muss dadurch nicht die Bibel, Gott oder den Glauben über Bord werfen. Wenn ich erkenne, dass meine Annahmen so nicht mehr stimmen können, oder wenn ich sehe, dass ich nicht mehr in die Glaubensvorstellungen anderer Menschen hineinpasse, dann braucht es eine Neuorientierung.

An dem Punkt angelangt kann ich mir selbst die Freiheit schenken, die Bibel wieder neu zu lesen. Vielleicht muss ich lernen, sie unvoreingenommen zu lesen. Das kann schwierig sein. Vielleicht ist es schmerzhaft, weil viele Bibelstellen mit schmerzhaften oder falschen Erfahrungen behaftet sind. Eventuell habe ich viele Vorstellungen so tief verinnerlicht, dass es mir schwerfällt, sie beim Lesen beiseitezulassen.

Es ist dieser Schmerz, der mir zeigt, wo der Schuh klemmt. Wenn es so mühsam ist, die Bibel unvoreingenommen zu lesen, zeigt es mir, dass gerade das notwendig wäre.

Projektionen loslassen und mit neuen Eindrücken ersetzen

Werde ich mir bewusst, dass ich unzählige Projektionen mit mir herumtrage, kann ich mich dafür entscheiden, dass sich etwas ändern muss. Aber was? Bisherige Erfahrungen und Sichtweisen führten in eine Sackgasse.

Ich selbst habe aus solchen gedanklichen und theologischen Sackgassen hinausgefunden, indem ich mich erneut mit der Bibel auseinandergesetzt habe. So wie ich erkannte, dass mein Verständnis bruchteilhaft ist (und selbstverständlich auch das Verständnis anderer Menschen), so schenkte mir diese Erkenntnis den Mut, den Text einfach mal für sich sprechen zu lassen. Nach und nach habe ich entdeckt, dass die Bibel nicht dogmatisch ist, dass die Menschen in der Bibel nicht verklemmt sind, dass Glaube nicht sektiererisch ist und der lebendige Gott sich vor allem durch Seine eigene Werke (und nicht durch meine Anstrengungen und Annahmen) spürbar und merkbar macht.

Die Bibel ist gar nicht so, wie sie oft dargestellt wird. Es ist kein Gesetzesbuch. Es ist keine Dogmatik. Die Bibel ist kein Buch, worin (nicht ein einziges Mal!) steht «Glaube an Jesus oder du bist für ewig verloren». Das sind alles Projektionen, die man getrost ablegen kann. Allerdings muss man das selbst entdecken. Glaubenssätze sitzen oft sehr tief verankert. Wer jedoch nachprüft, kann aus eigener und neuer Erfahrung sagen, wie es ist. Man gewinnt neue Erfahrungen und neue Sichtweisen. Man gewinnt Unabhängigkeit von Meinungen anderer Menschen.

Es ist ein wenig wie die Frage von Jesus an Seine Jünger:

«Ihr aber, was sagt ihr, wer Ich sei?»
Mt 16,15

Jesus fragt nach ihrer ganz eigenen Einschätzung. Sie müssen sich selbst Gedanken machen. Er sucht die persönliche Antwort, das persönliche Verständnis. Es nützt nichts, wenn ich nur die Meinungen anderer Menschen reflektiere. Wir sollten uns selbst auseinandersetzen und zu einer eigenen Antwort kommen.